»A Space That Already Exists«
Ligeti’s Recursive Model of Musical Experience
DOI:
https://doi.org/10.71046/simjb.2023.13Abstract
Ligeti hat in seinen Partituren selten räumliche Anordnungen festgelegt ; wenn sie auftauchen, sind sie in der Regel bedingt durch spezifische dynamische und klangliche Anforderungen. Dennoch war die »Funktion des Raumes in der heutigen Musik« – um den Titel eines seiner Essays zu übernehmen – von zentraler Bedeutung für seine kompositorische Ästhetik. Wissenschaftler, die nach einer prägnanten Formel für dieses wichtige Konzept suchen, werden wohl verzweifeln, denn Ligeti versammelt alle möglichen Aspekte des musikalischen Raums unter einem großen metaphorischen Dach, da »weder in der alltäglichen Erfahrung noch im abstrakten Denken Zeit und Raum [...] trennbar« seien.
Ligetis Schriften zur Form weisen einen interpretatorischen Weg durch dieses Dickicht. Der Hörer erlebt die Musik als eine Art umgekehrte, illusionäre Perspektive, in der Formen und Ereignisse – obwohl sie den »Raum« schaffen, den wir hören – in einem bereits existierenden Raum platziert erscheinen. Dieses rekursive kognitive Modell beginnt mit dem vom musikalischen Werk implizierten imaginären syntaktischen, historischen oder architektonischen Raum und arbeitet sich rückwärts zur phänomenologischen Erfahrung des Stücks vor : zu den Assoziationen, Abstraktionen, Erinnerungen und Vorhersagen, die den Hörer durch die zeitliche Entfaltung der Musik begleiten.
Ich argumentiere weiterhin, dass Ligetis Konzeption des musikalischen Raums über einfache Tropen visueller Analogien und statischer Ausblicke hinausgeht und eine philosophische Konzeption umfasst, die – sowohl in seiner Musik als auch in seinen Schriften – die moderne Entwicklung von Harmonik, Instrumentation, Spieltechnik und Aufführungsraum direkt mit seiner Identifikation mit einer »kritischen Tradition« (Hermann Sabbe) verbindet. Im Gegensatz zu Adornos Vorstellung von musikalischer Tradition als sedimentierter Struktur überträgt Ligetis Metapher dem Gewicht der Vergangenheit eine Rolle außerhalb des Werks. Wenn die Geschichte immer schon ein imaginärer Raum ist, können die musikalische Substanz, die Rhetorik und der Affekt eines einzelnen Werks diesen Raum erweitern, in einer sich ständig verändernden Beziehung, die sich der statischen postmodernen oder historischen Lähmung widersetzt, um Ligetis Konzeption mit zeitgenössischen Anliegen in Bezug auf Materialität und Embodiment zu verbinden.
Ligeti did not often specify spatial arrangements in his scores ; when they appear they are generally linked by necessity to the dynamic and timbral requirements of a work. Yet the »function of space in today’s music« – to borrow the title of one of his essays – was central to his compositional aesthetics. The scholar looking for a concise formula for this important conception may despair, as Ligeti seems to draw every possible aspect of musical space under one capacious metaphorical umbrella, given that »neither in everyday experience nor in abstract thinking are time and space separable«.
Ligeti’s essays on form indicate an interpretive path through this thicket. Listeners experience music as a kind of inverted, illusionary perspective in which shapes and events – despite creating the ›space‹ we hear – appear placed in a space that already exists. This recursive cognitive model begins with the imaginary syntactic, historic or architectural space implied by a piece, and works backward to the phenomenological experience of that piece : the associations, abstractions, memories and predictions that accompany a listener through the work’s temporal unfolding.
I further argue that Ligeti’s conception of musical space went beyond simple tropes of visual analogues and static vistas to embrace a philosophical conception – expressed in both his music and writings – that linked the modern evolution of harmonic languages, instruments, playing techniques and performance spaces directly to his invocation of a »critical tradition«, in the words of Hermann Sabbe. As opposed to Adorno’s notion of musical tradition as sedimented structure, Ligeti’s metaphor assigns the weight of the past a role external to the work. If history is always already an imaginary space, the musical substance, rhetoric, and affect of an individual work can operate to expand that space, in an ever-changing relation that resists static post-modern or historical paralysis, to link Ligeti’s conception to contemporary concerns with materiality and embodiment.
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