Interpretation als musikalischer Text
Ligetis »Volumina«, die Orgeletüden und die Kanonisierung interpretatorischer Lösungen
DOI:
https://doi.org/10.71046/simjb.2023.22Abstract
Die im Rahmen der klassischen Musik grundlegende strikte Unterscheidung zwischen Komposition und Interpretation gerät an ihre Grenzen in Werken, in denen den Interpretierenden Freiheiten eingeräumt werden, die über interpretatorische Details wie Phrasierung und Agogik hinausgehen. Techniken der Musik des 20. Jahrhunderts, wie graphische Notation und Aleatorik, verschleiern die Unterscheidung zwischen Komponist und Interpret. Ligetis Volumina für Orgel (1961–62/1966) sind ein klassisches Beispiel für ein Werk, in dem die Realisierung in hohem Maße von der Interpretation abhängt.
Die Grenzlinien zwischen Interpretation und Komposition werden weiter verwischt in Werken, in denen mustergültige Interpretationen Teil des musikalischen Werkes werden und wo der Komponist musikalische Lösungen von Interpreten in die Musik selbst integriert. Dies ist der Fall in Ligetis Zwei Etüden für Orgel (1967/69), die oft im Schatten der weitaus bekannteren Volumina stehen. Wenngleich sich Ligeti in den beiden Etüden weitgehend traditioneller Notation bedient, so sind doch den Interpretierenden wiederum weitgehende Freiheiten eingeräumt. Dies gilt vor allem für Harmonies, die erste der Etüden.
Freiheiten bereiten indes auch interpretatorische Herausforderungen, und in den frühesten Aufführungen der Etüden haben die Organisten Gerd Zacher, Gábor Lehotka und Karl-Erik Welin diese Herausforderungen auf je verschiedene Weise gelöst. Ligeti hat zahlreiche dieser Lösungen dann selbst wiederum in die Aufführungsanweisungen der gedruckten Ausgabe aufgenommen, wodurch die Unterscheidung zwischen Komponist und Interpret noch mehr verschwimmt. Zwar sind die Urheber der Ideen jeweils namentlich ausgewiesen, jedoch gewinnen ihre Lösungen durch die Aufnahme durch den Komponisten gleichsam kanonischen Status.
Interpretation as Musical Text. Ligeti’s »Volumina«, the Organ Etudes and the Canonisation of Interpretative Solutions
The sharp line between composition and interpretation, which is fundamental to classical music, comes up against limiting factors in such works where the performer is granted liberties that go beyond interpretative details such as phrasing and agogic. Techniques of 20th century music, such as graphic notation and aleatorics, obscure the distinction between composer and performer. Ligeti’s Volumina for organ (1961–62/1966) is a classic example of a work in which the realisation is highly dependent on the interpretation.
The boundaries between interpretation and composition are further blurred in works where exemplary interpretations become part of the musical work and where composers integrate musical solutions from performers into the music itself. This is the case in Ligeti’s Two Etudes for Organ (1967/69), which are often overshadowed by the much better-known Volumina. Although Ligeti largely makes use of traditional notation in the etudes, the performer is again given a great deal of freedom. This applies above all to Harmonies, the first of the etudes.
However, freedom also results in interpretational challenges, and in the earliest performances of the etudes, the organists Gerd Zacher, Gábor Lehotka and Karl-Erik Welin each approached these challenges in different ways. Ligeti himself later included many of their solutions in the performance instructions of the printed edition, even further blurring the distinction between composer and performer. Although the performer’s ideas are identified by name in each case, their solutions acquire a kind of canonical status through their inclusion by the composer.
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